Die schönen Seiten des Lebens

20. November 2025

Als würde das Leben auf ihn einschlagen. So liest sich Holger L.‘s Lebensbiographie. Erst im Kontakt mit der Inneren Mission kehrt wieder Ruhe in sein Leben ein.

Mit zwölf Jahren trinkt Holger das erste Mal Alkohol aus den Flaschen der Eltern, die stark alkoholsuchtkrank sind.  Mit 14 beginnt er eine Lehre als Maler. Doch die muss er aufgrund seines jungen Alters vorzeitig beenden. Einige Jahre später, bei einer körperlichen Auseinandersetzung, bricht Holger einem anderen das Nasenbein. Es folgt eine Anklage wegen versuchten Mordes mit 17 Jahren, Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung, später wechselt er in den offenen Vollzug und bekommt zwei Jahre auf Bewährung. Da hat er noch eine eigene Wohnung.

Das Glück gewinnt kurzfristig die Oberhand. Er lernt eine Frau kennen, die seine Verlobte und schwanger wird. Er, der eigene Kinder nie haben wollte, freut sich auf das Kind und macht erste Besorgungen. Dann schwingt das Leben seine Fäuste: Ein tragischer Autounfall endet für seine Verlobte und das ungeborene Kind tödlich. Holger will jetzt nur noch vergessen und verdrängen, trinkt zu Höchstzeiten zwei Flaschen Whiskey und zwölf bis 24 Flaschen Bier am Tag. Irgendwann ist ihm alles egal, er gibt den Wohnungsschlüssel ab, packt seine Sachen, leert das Konto, geht nach Bremen und „macht Platte“.

Trotz allem lässt Holger sich nicht völlig unterkriegen: „Im Großen und Ganzen habe ich nie Sorgen gehabt, ich habe immer auf meine Hygiene geachtet und Wert darauf gelegt, den Platz um mich herum sauber zu halten“, erzählt er, und weiter: „Mindestens einmal im Monat bin ich in einen Waschsalon gegangen und habe alles gewaschen – das war mir wichtig.“ Wenn er bettelt, spricht er die Menschen nicht an. „Ich saß auf meiner Decke, hatte ein Schild und einen Becher vor mir, habe die vorbeigehenden Menschen nicht angesehen, sondern bei Spende nur Danke gesagt.“

Es gibt die schönen Momente: Drei Mal erhält er von Dieter Bohlen eine Spende. In Frankreich wird er zu einer Hochzeit eingeladen, der Bräutigam leiht ihm einen Anzug und er verbringt eine ganze Woche mit dem Ehepaar und der Familie. Holger beschreibt dieses Erlebnis als außergewöhnlich.

Unterwegs in Bremen ist er mit Fahrrad und Anhänger. Einmal wird er in der Nacht von einer Gruppe bedroht und überfallen, verprügelt dann einen aus der Gruppe stark und wehrt sich, die anderen hauen ab. „Angst darfst du auf der Straße nicht haben und wenn du sie hast, zeig sie nicht – es gilt das Faustrecht“, ist Holgers Erfahrung mit der Wohnungslosigkeit.

Nach einem Fahrradbrand findet Holger den Weg in die Notunterkunft für Männer. Die Mitarbeitenden engagieren sich sehr, vermitteln ihm einen Platz im Adelenstift, schließlich kann er sein eigenes Zimmer beziehen. Nach langer Zeit kehrt erstmalig für ihn wieder Ruhe ein. Das ist jetzt fünf Jahre her. So lange wohnt der 67-jährige bereits in der „Adele“.

Sein neues Zuhause in der Wohneinrichtung der Inneren Mission gibt ihm Stabilität. Aber auch ein Maß für seinen Alkoholkonsum, der sich durch die eng gesteckten finanziellen Mittel deutlich auf wenige Male im Monat auf ein bis vier Flaschen Bier reduziert.

Hier, im Adelenstift, lernt Holger die schönen Seiten des Lebens kennen. Fragt man ihn, was ihn glücklich macht, antwortet er: „Wohnraum in der Adele zu haben und am Leben zu sein.“